HalloWelt! Blog #2: 36C3: Fotografieren verboten
Als wir am Mittag des 28. Dezember in Leipzig ankommen, scheinen sich all meine Klischees und Vorurteile über die Stadt bestätigen zu wollen. Uns empfängt eine ungute Stimmung, virulente Gewalt. Einige junge Leute lungern vor dem Bahnhof herum und suchen Streit, zum Glück nur untereinander – für den Moment. Wir warten nicht, ob sie ihre Meinung vielleicht noch ändern. Und bevor wir die richtige S-Bahn gefunden haben, zieht ein Trupp junger, vermutlich deutsch-nationaler Männer obskure Lieder grölend durch die Hallen. Nein, der erste Eindruck ist nicht überwältigend, daran vermag auch der prächtige, alt-ehrwürdige Hauptbahnhof nichts zu ändern. Später werde ich mich fragen, welche Rolle meine Erwartungen im Vorfeld gespielt haben. Habe ich mich schon zuvor darauf festgelegt, was ich vorfinden werde? Aber die pöbelnden Menschen waren ja tatsächlich dort, die habe ich mir nicht eingebildet.
Aber um die Qualitäten von Leipzig für Touristen soll es gar nicht gehen, obwohl diese Frage mich in den nächsten Tagen immer wieder beschäftigen soll. Warum, frage ich mich ein ums andere Mal, haben die Kongressveranstalter diesen Ort für das Event ausgewählt?
Wir besuchen den 36C3. Das ist die 36. Auflage des jährlich stattfindenden Kongress des Chaos Computer Club. Ich kenne die Veranstaltung, habe aber eine lange Auszeit hinter mir.
Zum letzten Mal war ich vor etwa zehn Jahren dort, damals fand der Congress noch in Berlin statt und ich habe ihn gleich in mehreren aufeinanderfolgenden Jahren besucht. Ein toller Spaß, den wir da immer am Alexanderplatz hatten. Der C3 ist das Jahrestreffen von und für Hacker, Nerds, IT-Experten und Sicherheitsforschern. Hier wird gehackt, gefachsimpelt, genetzwerkt und es laufen unzählige Talks und Panels zu allen denkbaren Themen aus IT und Technik. Um die technischen Aspekte der Veranstaltung soll es aber hier auch nicht gehen. Damals war ich als privater Besucher angereist, diesmal komme ich als Vertreter der Presse. Das ist auf dem 36C3 eher kein Qualitätsmerkmal, wie ich noch lernen werde. Journalisten, das merken wir die nächsten Tage auch immer wieder, sind in den Messehallen nicht willkommen.
Überall Engel
Als wir am Messegelände eintreffen, ist es schon Nachmittag. Große Schlangen am Einlass gibt es nicht mehr und wir finden ohne Probleme die Ansprechpartner für Pressevertreter. Das Organisationsteam ist personell überwältigend aufgestellt: Es scheint, als ob fast jede Position von mehreren Mitarbeitern besetzt wird, womöglich auch dauerhaft. Eine Kollegin scannt unsere Pressetickets, ein anderer begleitet uns wenige Schritte zu einem weiteren Kollegen, von ihm bekommen wir unsere Pressearmbänder, die uns auch optisch als Medienvertreter kennzeichnen. Anschließend begleitet uns der Kollege noch in den Presseraum, wo wir unsere Messeausweise erhalten, die Hundemarke zum um den Hals hängen. Auf Messen und Fachkongressen sind die Pressebetreuer für gewöhnlich eher spröde, leicht unterkühlt bis gelangweilte Geschöpfe, professionell zwar, aber mit dem Engagement eines Fahrkartenautomaten. Hier wirken alle Engel, so heißen die Mitarbeiter der C3-Organisation, motiviert und zugewandt. Unsere Fragen werden mit vollem Einsatz nach besten Kräften beantwortet, auch wenn noch einmal rückgefragt werden muss. Und wie viele Engel es gibt: Am Ende werden sich knapp 5.000 freiwillige Helfer für die Unterstützung und Durchführung des 36C3 registriert haben, ohne Bezahlung. Ein unglaublicher Einsatz. Gut, die Engel bekommen freien Eintritt und Verpflegung und man kann davon ausgehen, dass viele Engel ansonsten als Gäste gekommen wären, aber trotzdem: Mich beeindruckt die Zahl von über 4.000 Menschen, die freiwillig ihre Zeit und Arbeitskraft einsetzen, um die Veranstaltung möglich zu machen.
Fotografieren verboten
Dass wir uns gleich zu Beginn im Presseraum einfinden sollten, wurde uns schon in der Akkreditierungsbestätigung eingeschärft, es gibt noch einige Hinweise. Das wichtigste: Die Fotos. Das sollte ich schon in meiner Anmeldung angeben: Welche Art von Aufnahmen sollen gemacht werden: Bild, Bewegt-Bild?
Es gibt eine eiserne Auflage für alle Journalisten. Keine Bilder von Menschen machen, nie und unter keinen Umständen. Bei allen Fotoaufnahmen muss ein Presseengel anwesend sein, diese Vorgabe ist nicht optional. Ohne von einem Presseengel begleitet zu werden, darf kein Kamerateam über die Messe. Wir führen keine großen Kameras mit uns und wir kennen die Regeln.
Am nächsten Tag im Presseraum: Einige Journalisten sprechen mit den Engeln, es geht um die Foto-Policy. Die Journalisten sind unglücklich über die Einschränkungen. So sei die Arbeit doch arg mühselig, klagt eine Kollegin, obwohl sie ja durchaus Verständnis für die Anonymitätswünsche der C3-Besucher habe. Der Engel illustriert an einem Beispiel, wie leicht Menschen auf ein Foto geraten, wenn ein Fotograph etwa eine schnelle Aufnahme von der Rolltreppe macht, „ein Übersichtsbild“, das brauche man schließlich auch. Und dabei gerieten aber auch ganz schnell Köpfe von Menschen ins Bild, was aber eben nicht sein dürfe. „Das kann ganz schnell ein ganzes Leben zerstören.“. „Kompletter Schwachsinn“, ihr Kollege von der Presse wird jetzt richtig energisch und auch ein bisschen laut. Nein, er kann diese restriktive Foto-Policy überhaupt nicht nachvollziehen. Es gehe hier auch um die Vermeidung von Diskriminierung, hält der Engel dagegen. Bestimmte Menschen würden sich hier auf dem Congress einstellen in der Gewissheit, hier vor Diskriminierung sicher zu sein. Jetzt tritt eine Person auf, von der ich mir vorstellen kann, in welcher Weise sie von Diskriminierung betroffen wäre, würden Fotos einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich, die konkrete Natur dieses Potenzials nenne ich aber nicht. Die Diskussion ist an ihrem intellektuellen Höhepunkt angelangt und verflacht rasch.
Die Sache ist knifflig. Ich kann den Kollegen schon verstehen, sein Argument ist sehr gut: Presseleute brauchen Bilder und es ist durchaus hilfreich, dabei auch zeigen zu können, kein Stillleben besucht zu haben. Der 36C3 empfing 2019 immerhin rund 17.000 Besucher, diesen Eindruck sollte man einfangen können, ganz zu schweigen von den teils aufwendigen Installationen, von denen ihre Schöpfer womöglich befürchten, sie kämen ob der abschreckenden Auflagen auf gar kein Bild.
Doch auch die Argumente der Veranstalter sind stichhaltig. Allerdings: Wie erfolgreich kann der Versuch, alle Fotos von Besuchern zu unterdrücken bei einer Veranstaltung dieser Größe schon sein? Nicht sehr, das zeigt sich auch während der drei Tage. Auf Facebook tauschen schon bald reihenweise Fotos vom Congress auf – mit Menschen darauf. Haben sie alle in die Aufnahmen eingewilligt?
Und wenn tatsächlich einige Besuchergruppen von Diskriminierung bedroht sind, wieso holt man die Veranstaltung dann nach Leipzig? Davor war sie in Hamburg und davor in Berlin, beides Städte mit einer bunten und durch Vielfalt geprägten Bevölkerung. Leipzig ist geprägt durch das unaufhörliche harte Aufeinanderprallen rechts- und linksextremer Gruppen. Ich stelle genau diese Frage einem der Engel im Pressebüro: Wieso Leipzig? Die Antwort ist simpel: Die Leipziger Messe hat dem CCC die besten Konditionen gemacht. Daneben ist es auch eine Frage der Kapazität: Das Berliner BCC wurde irgendwann zu klein, die Hamburger Örtlichkeit auch, man brauchte mehr Platz. Man hatte auch andere Städte ins Auge gefasst, etwa Köln oder Wien, am Ende aber wurde es Leipzig, wohl auch des Geldes wegen. Ob es denn noch nie Probleme gegeben habe wegen des Veranstaltungsortes, will ich wissen. Die Logistik sei schwierig, bekomme ich zur Antwort, weil der Club vieles an Ausrüstung und auch viel Personal von anderen Ortsverbänden her schaffen lassen müsse. „Gut, aber die Leute, sind die glücklich hier?“ Achselzucken. „Ich setze mich in meine Bahn vom Hotel und in ein paar Minuten bin ich dann da. Da bin ich wohl zu sehr in meiner Filterblase.“ Schade. Ich nehme mir vor zu versuchen, mit noch ein paar anderen Engeln über dieses Thema zu sprechen, die beim Auf- und Abbau geholfen haben.
Allgemein zeigt sich, dass wir nicht sehr beliebt auf der Veranstaltung sind. Auf Twitter wird vereinzelt -„vor den Journalisten“ gewarnt, im Presseraum warnt man uns vor: Bei einigen Veranstaltungen der Musikserie sei Bändchenkontrolle, da würden wir möglicherweise nicht rein gelassen. Wo uns unser Pressestatus sonst oft Türen und Zugänge öffnet, verschließen wir uns durch ihn hier Möglichkeiten – eine neue Erfahrung.
Be excellent to each other
Von diesen Eigenheiten abgesehen, fühlen wir uns wohl auf dem C3. Nicht nur die Presseengel, alle freiwilligen Helfer sind freundlich, fast herzlich. Die Besucher, die Hacker und Nerds, höchst wahrscheinlich auch, aber sie bleiben für sich, ergreifen nicht die Initiative. Ich kenne das von damals, da war ich selbst Teil einer Gruppe, jetzt sind wir die Außenstehenden und sehen zu, wie andere Spaß haben. Aber wir haben trotzdem auch Spaß. Die Talks, die wir uns anschauen, sind alle samt und sonders anspruchsvoll und hoch professionell.
Viele Veranstaltungen sind politisch, gesellschaftskritisch. Uns wird klar gemacht, dass wir alle mit Schuld an der Klimakatastrophe tragen und auch an sozialer Ungleichheit tragen wir Mitverantwortung, ob wir wollen oder nicht. Die Vorträge sind gut, so lange sie laufen, im Aufzeigen von Problemen sind die Vortragenden Weltklasse, im Aufzeigen von Lösungen weniger. So ist es etwas ernüchternd, wenn ein Datenjournalist nach einem 40-minütigen Feuerwerk überzeugender statistischer Auswertungen zu strukturellem Rassismus und Sexismus auf die Fragen aus dem Publikum lediglich in immer neuen Formulierungen antwortet: „Das ist eine unglaublich schwere Frage, darauf haben wir noch keine Antwort, denn daran haben wir noch nicht gearbeitet.“ Das ist aber schon die schwächste Leistung, die mir aufgefallen ist. In der Regel sind die Vortragenden ausgewiesene Experten aus der Praxis, die in ihren Panels zumeist so fachspezifisch werden, dass ich nur mit Mühe folgen kann. Immer wieder fällt die Losung „Be excellent to each other“, oft als Ausklang und Verabschiedung nach einem Talk. – eine Art inoffizielles Congress-Motto, so scheint es und eins, das mir gefällt.
Es kann nichts falsch daran sein, wenn jeder versucht, nett und freundlich zu allen anderen zu sein. Was uns betrifft, wird uns überall Freundlichkeit entgegengebracht und ich denke, wir sind auch nicht als Soziopathen aufgetreten. Also alles flauschig, alle haben sich lieb?
Irgendwann an meinem zweiten Kongresstag verfolge ich halb das Gespräch einiger Engel. Ich war gerade ein wenig durchschnaufen und hatte mich auf einem hierfür wie gemachten Lager mitten in der Halle niedergelassen. Das Gespräch, das so dermaßen von Anglizismen und Kunstwörtern durchsetzt war, dass ich es hier nicht wiedergeben mag, drehte sich im Grunde um die Schwierigkeiten, die entstehen, wenn man versucht, es allen recht zu machen. Die Kongressbesucher sind nämlich keineswegs eine homogene Masse, heute noch deutlich weniger als früher. Nach außen hin werden sie vielleicht alle als Hacker oder Nerds wahrgenommen, nach innen zerfällt diese Gruppe aber in unzählige Untergruppen, alle mit eigenen Interessen, Bedürfnissen, Ansprüchen. Unter den Datenreisenden sind viele empfindliche Seelchen, die allzu leicht beleidigt reagieren, bei der geringsten subjektiv falschen Behandlung einschnappen und schmollen, einer unangemessenen Ansprache etwa oder gar keiner Ansprache. Egal, wie man es macht, alles kann falsch sein, so habe ich es wahrgenommen. Wieso ich nicht rüber gegangen und nachgebohrt habe? Ich wollte nicht als Journalist enttarnt und davongejagt werden – und ich war krank, schon am ersten Tag hatte mich die Congress-Grippe erwischt. – Nächstes Mal!
Das andere Leipzit
Der Kongress ist vorbei, zumindest für uns. In den Hallen laufen noch immer die Vorträge, aber wir haben genug Daten getankt. Mein eigentliches Ziel, über Sicherheitsprobleme für Apple-Nutzer zu schreiben, habe ich nur mäßig erfüllt. Einen entsprechenden Vortrag hatte ich verpasst, der lief gleich am ersten Tag, einen weiteren, der sehr eindrucksvoll zeigt, wie man ein iPhone softwaremäßig auseinandernimmt, war so dermaßen fachlich, dass es aussichtslos gewesen wäre, ihn unseren Lesern anzubieten. Wir haben also unsere Sachen gepackt und d die Party verlassen. Bevor es zurück geht, wollen wir Leipzig noch eine Chance geben, den ersten Eindruck zurecht zur rücken.
Wir fahren vom Hauptbahnhof eine Station bis zum Markt und da… da ist es, das Leipzig, von dem wohl alle so begeistert sind, das touristisch so viel her macht. Am Markt mit seinem historischen Renaissance-Rathaus und den Passagen mit kleinen, aber feinen Geschäften, zeigt sich ein ganz anderes Bild. Der Platz ist bevölkert, Touristen und Einheimische flanieren entlang. Die Stimmung ist geschäftig, zugleich aber entspannt und heiter. Niemand schimpft, schupst oder drängelt. Ein schöner Nachmittag.
Erster Eindruck also korrigiert? Ich bin nicht recht sicher. Klar ist, Leipzig hat kulturell und historisch eine Menge zu bieten, das wusste ich schon vorher, das ist auch Allgemeinwissen. Aber lassen sich diese Zeugnisse früherer Tage überhaupt los gelöst von der Gegenwart würdigen? Welchen Wert, welche Bedeutung kann noch die schönste historische Altstadt haben, wenn die Stadt darum herum an höchst aktuellen gesellschaftlichen Problemen zu zerbrechen droht?
Wir können diese Frage bei diesem Besuch nicht beantworten.